Noch vor 50 Jahren hat wir ein völlig anderes Bildungssystem in unserer Republik. Das Abitur war ein elitärer Bildungsabschluss. Und das war sicherlich gut so. Ein Hochschulstudium sollte den Besten vorbehalten sein und die obersten Sprossen in den Verwaltungen und Betrieben konnte man auch nur mit dem Abitur erklimmen. Daneben gab es den Realschulabschluss. Das war die Startrampe für die spätere mittlere Leitungsebene und wenn man sich in dieser bewährt hatte, ging´s auch noch höher.
In den 50er und 60er Jahren des 20.Jahrhunderts konnte man dank des sich manifestierenden Wirtschaftswunders mit dem Volksschul-/Hauptschulabschluss nahezu jeden qualifizierten Beruf erlernen. Dazu bedurfte es nicht wie heute 30 oder 50 Bewerbungen. Ganz im Gegenteil. Oft reichte ein Vorsprechen beim zukünftigen Lehrherrn und ein guter Eindruck. Die Bewerber waren ja meist erst 14 bis 16 Jahre alt. Natürlich hatte man "anständige" Klamotten an, saubere Fingernägel und man war selbstverständlich auch vorher beim Friseur. Es gab typische Handwerksberufe für Jungen und Bürojobs und Einzelhandelsstellen für die Mädchen mit einem halbwegs guten Zeugnis zu ergattern. Man konnte mit dem Volksschulabschluss durchaus Bankkaufmann oder Industriekaufmann werden. Einer meiner Freunde hatte es dabei sogar bis zum Vorstandsmitglied einer Großbank gebracht. Ja, das waren noch Zeiten.
Dozent von docere--lehren, also Lehrer
Ingenieur von ingenium--Scharfsinn, Erfindung
Professor von pro fateri-- sich (öffentlich zu einem Beruf) bekennen
Konzeption von concipere, conceptio--etwas erfassen
Bachelor von Bakkalaureus, baccalauris--Jüngling ohne eigenes Land, engl. Junggeselle
Master von magis, Magister--mehr, groß - Meister
Mitte der Sechziger Jahre ereilte uns die erste Rezession nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach Jahren rasanten Wirtschaftswachstums stagnierte die Konjunktur plötzlich. Aber wie so oft ging es nach einer kurzen Durststrecke bald wieder aufwärts. Wir hatten viel zu wenig Produktivkräfte und so wurden auf Teufel komm raus von allen Firmen durch die Bundesregierung unterstützte Anwerbungsmaßnahmen für ausländische Arbeitnehmer angestoßen. Die ersten Wellen der sogenannten Gastarbeiter waren gekommen. Gleichzeitig besann sich das deutsche Ingenieurwesen auf seine Kernkompetenzen zur Steigerung der Produktivität. Mitte der Sechziger Jahre war das kleine auferstandene Deutschland das produktivste Land der Welt noch vor den USA. Nur Japan, ebenfalls ein Kriegsverlierer, rückte stark auf.
Mit dieser Wirtschaftswandlung gingen auch etliche Bildungsreformen einher. Eine Schulreform jagte die andere und auch die Hochschulen und deren Zugangsregeln wurde reformiert. Derweil befasste sich das Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung (BBF, heute BIBB) mit der Umsetzung des 1969 in Kraft getretenen bundeseinheitlichen Berufsbildungsgesetzes (BBiG). Während z.B. der NRW Kultusminister Fritz Holthoff, ehemals Schulrat in Duisburg fleißig an den allgemeinbildenden Schulen herumdokterte, hatte man auf dem Berufsbildungssektor mit der Einführung des Dualen Sytems alle Hände voll zu tun. Neue Schulformen schossen aus dem Boden. Die Fachoberschulen ergänzten den Fachschulsektor (z.B. Frauenfachschule für Frauenberufe - heute ein undenkbarer Begriff) , der auf Berufsfelder vorbereitend ebenfalls zur Fachoberschule wurde. In den Jahren 1970 bis 1971 wurde das "kleine Abitur erfunden". Danach hieß es Fachabitur (korrekt: fachgebundene Hochschulreife). Mit Abschluss der Fachoberschule hatte man die Fachhochschulreife erworben und konnte damals an einer der über 70 Fachhochschulen studieren (Die bekannteste war wohl die RWTH seit 1865 größte deutsche technische Hochschule in Aachen. 2017 fast 55.000 Studierende) Heute gibt es ca 430 Fachhochschulen und 106 Regeluniversitäten. in der BRD
Mit der Zeit wurden die beruflichen Anforderungen immer spezieller. In einigen Bereichen fehlte der Studiennachwuchs und so führte man im pädagogischen Sektor für die Primarstufe eine sog. Begabtensonderprüfung ein. Man konnte ohne Abitur Lehrer werden. Später erstreckten sich diese Ausbildungen auch auf die Fachlehrer, insbesondere für die neuen Berufsfelder im praktischen IT-Bereich, der Betriebs- und Verwaltungswirtschaft sowie in dem aufkeimenden Feldern der Organisationslehre, Bürowirtschaft und Datenverareitung. Diese Fachlehrer setzten die Tradition der Gewerbelehrer meist an den berufsbildenden Schulen fort.
Heute ist das berufliche Bildungssystem ebenso wie das Schulsystem derart verworren, dass selbst gestandene Fachleute nicht mehr durchblicken. Der Föderaralismus mit der Kulturhoheit bei den Ländern sorgt auf der Landkarte der Schulen und Schulsysteme für viele bunte Auswüchse. Mal wird in Bayern was probiert, mal in Sachsen usw. Die Leidtragenden sind immer die Schüler und bedingt auch die Eltern. Allein das Hickhack mit Abitur nach 8 (G8) oder 9 (G9) Jahren hat nicht nur Nerven gekostet. Den Stress hiermit, den ein Kultusminister als gute Vorbereitung auf den Berufsstress bezeichnete, hat den jungen Leute einen Teil ihrer Jugend gestohlen.
Unglaublich ist die Zahl der Studienangebote. Allein in NRW gibt es 2017/2018 eine Zahl von 2013 Bachelor-Studiengängen, 1973 Masterstudiengänge sowie 64 sonstige Studiengänge (u.a. Kirchen). Selbst im winzigen Saarland sind es noch 106 bzw. 110 plus 63 sonstige Abschlüsse. Welcher Studienbewerber soll da noch durchblicken? Diese Entwicklung der Spezialisierung steht diametral gegenüber der Entwicklung bei den Ausbildungsberufen. Hatten wir 1971 noch 606 anerkannte Ausbildungsberufe, so sind es 2017 nur noch 327.
Diese Unübersichtlichkeit und der Wunsch derer, die trotz der Vielzahl an Angeboten ihren Wunschberuf noch nicht gefunden haben, bleibt nur die Flucht in die nicht näher definierten und ungeschützten Berufsbezeichnungen. So kann man wenigstens nach außen etwas vorweisen, wie etwa den Jodelkurs von Frau Hoppenstedt, was jedoch jeder Fachmann oder Personalleiter sofort enttarnt. Führend für diese "Traumberufe" sind die Anbieter von Fernlehrgängen. Wir nannten diese Lehrgänge früher Rabattmarkenbildung. Mindestens einmal monatlich kam ein Brief von der Studiengemeinschaft Darmstadt oder dem ILS, Hamburger Fernlehrinstitut ins Haus. Der Informationsbroschüre war meist ein Bogen mit kleinen Aufklebern von der Größe der Rabattmarken beigefügt. Man las sich den Wunschberuf durch und bewertete die erstrebte Qualifikation in Bezug auf die Außenwirkung. Dann klebte man seine Marke auf den Anforderungsschein für die Probelektionen und ab in die Post damit. Ja und rasch war man eine horrende Summe Geld für nix los. Das Zertifikat "Fachmann für ..." oder z.B. "Fachmann für Kostenstruktur und Konzeption" hörte sich ja mächtig wichtig an. Dabei sind ....Struktur und vor allem der einigen Bildungsgängen als Annex zugefügte Begriff "und Konzeption" so nichtssagend wie das Grunzen eines Warzenschweins. Zwischen 2.500 und 5.500 Euro kosten derartige Luftausbildungen. Verwerflich, dass diese Angebote sogar mit Bildungsgutscheinen teil- oder vollfinanziert werden. Die Lerninhalte hat ein Student im ersten Semester oder jeder zweite Auszubildende im passenden kaufmännischen Beruf im ersten Halbjahr gefressen. Jeder Personalleiter wird den Bewerber ob dieser Ausgabe bedauern. Einzig die Inhalte, die auf staatliche Prüfungen vorbereiten, können als halbwegs seriös angesehen werden.
Sparen wir also unser Geld und wenden uns "wichtigen" Berufen zu, für die man absolut gar nichts benöigt. Auch hier tummeln sich findige Promoter, die einen rasch zum Journalisten oder gar Schriftsteller ausbilden. Natürlich wieder für Geld. Hauptschulabschluss nicht erforderlich. ..... allerdings gute Grundkenntnisse der Deutschen Sprache. Na toll. Sparen wir uns doch die Gebühren von vornherein. Journalist darf sich jeder nennen, selbst der größte Idiot. Traurig aber wahr für diejenigen, die diesen Beruf von der Pieke auf gelernt und studiert haben. Künstler darf auch jeder auf seine Visitenkarte drucken. Schriftsteller ist ganz beliebt. Ja aber es gibt auch tolle Berufsbezeichnungen, bei denen nicht jeder sofort hinter den Fake steigt. Die Ablürzung Ing.sc. suggeriert, dass es sich bei diesem Kandidaten um einen Ingenieur handeln muss. Weit gefehlt. Er bezeichnet sich als Ingenieur des Geistes. Toll, nicht wahr. Wussten Sie aber, dass selbst der Begriff Jurist nicht geschützt ist? Es gab massenhaft Versuche, den "Titel" als Berufsbezeichnung zu schützen. Sie sind alle fehlgeschlagen. Jurist ist nun mal kein Beruf, kein Titel, ja nix! Rechtsanwalt, klar, Tierarzt, Psychotherapeut usw. fallen unter den Schutz des § 132a StGB. Hier ist der Missbrauch strafbar. Aber wie wäre es mit Lebensberater, Numerologe, Parapsychologe. Allesamt tolle wichtig klingende Begriffe. O.K. belassen wir es hierbei.
Zum Schluss:
Um Menschen zu verwirren oder zu täuschen, braucht es für manchen Beruf einfach einen Namen. Er muss schön, zeitgemäß und "wichtig" klingen. Da ist der Facility-Manager sicher besser angesehen als der Hausmeister. Bei Versicherungen gibt es nur Direktoren, schon mal gemerkt? Hiervon gibt es zig Beispiele. Aber haben sie den Leuten mal auf den Zahn gefühlt, was die Lateinkenntnisse betrifft? Kein Mensch wird zugeben, dass er den folgenden Satz nicht annähernd übersetzen kann. Andererseits wird ihnen auch niemand sagen, dass das Blödsinn ist, was da steht. sita us vilate inis et abernit. Na, den Trick erkannt? Wenn nicht lesen Sie den folgenden Satz mal von hinten nach vorn. tin reba et si nietal iv sua tis. Schönen Tag noch.
>Man glaubt, man sei Herr seiner Entscheidungen. Mitnichten! Findige Marketingstrategen befehlen uns, was wir gut zu finden haben und was nicht. Und das ist lange nicht alles. Wir machen das, was den Profit für die bringt, die uns beherrschen. Dabei werden wir nicht zufällig ausgesucht. Oftmals wirken wir fleißig mit. Wir gehen einfach zu lasch mit unseren Daten um.
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