Mit Zahlen ist das so eine Sache. Die einen sind Zahlenmenschen, können sich 20-stellige Kontonummern merken und im Nu 30 Positionen auf einem Zettel oder gar im Kopf addieren. Die anderen haben da nicht die geringste Affinität. Nicht, dass diese Menschen alle unter Dyskalkulie leiden. Im Gegenteil, sie können es, wenn sie nur müssen. Gern befassen sie sich aber heute nicht mehr damit. Die Computer und das Smartphone haben längst Papier und Bleistift abgelöst. Selbst simpelste Rechnungen werden heute mittels der Elektronic aufgelöst. Viele interessieren sich einfach nicht mehr für das "einfache" Rechnen und verlieren so im Laufe der Zeit auch oft das Verständnis für Relationen.
Tatsächlich sind wir in der heutigen Zeit nicht nur beim Rechnen auf Strom angewiesen. Ohne Strom geht rein gar nichts mehr. Die Heizungssteuerung versagt, die Pumpen an der Tankstelle wollen nicht mehr, die Pommes Frites werden nicht mehr knusprig, und und und.
Wollen wir aber beim Thema bleiben. Ich wohne in der schönen Kleinstadt Haltern am See. Dort gab es vor ein paar Jahren in der Innenstadt einen Stromausfall. Prompt schlossen alle Geschäfte in der Fußgängerzone. Die Kunden mussten die Läden ohne Waren verlassen, weil das Kassensystem nicht mehr funktionierte. Ich war zu dem Zeitpunkt in der Filiale von "Seifenplatz", die damals schon "Ihr Platz" hieß. Das war ein Drogerie-Unternehmen, das später leider der Schleckerpleite zum Opfer fiel. Ich brauchte dringend Zahnprothesenkleber. Mein "Unterkiefer" hatte sich gelöst. O Gott, dachte ich, Stromausfall, auch das noch. Bleiben die Zähne locker.
Nix da! Die Eingänge wurden zwar abgeriegelt, aber die Kunden im Geschäft wurden weiter bedient. An der Kasse saß eine phänomenale lebende Rechenmaschine, ca 60 Jahre alt. Sie hatte sich aus dem Warenvorrat einige Blöcke geschnappt und schrieb die Artikel auf, die die Kunden über das stillstehende Band schoben. Zack in der Mitte ein Strich, links die Artikelnummer, rechts Menge und Preis. Und wieder zack, zack zack, Menge mal Preis im Kopf, mit dem Bleistift wie mit einem neuartigen Zaubergerät unter unverständlichem Murmeln an der Preisspalte hinunter gefahren und dann "33,68 bitte!", "14,10 bitte", "66,20 bitte" und bei mir "3,59 bitte". Auch an die Kassenverriegelung hatte sie gedacht. Damit das Schoss nicht wieder zufiel und mit einer Nadel entriegelt werden musste, hatte die Dame ein Taschentuch eingeklemmt. Im NU war der Laden leer.
Natürlich hab ich auch schon das Gegenteil erlebt. Da schreibt sich ein Mädel 3 Positionen auf einen Zettel, macht einen Strich drunter und beginnt zu rechnen. So gesehen in einer Filialbäckerei. Die Summe der 2 Brötchen hatte sie zunächst von einer Multiplikationstafel auf dem Tresen abgelesen. Hier wurden die Gesamtpreise von 1 (!) bis 20 Brötchen abgelesen. Tageszeitung, Kaffee, 2 Brötchen natur. Und das mit Zettel! O my God!
Man glaube nicht, dass das absolute Ausreißer sind. Der Mensch ist nicht mehr in Übung. Er lässt rechnen und verlässt sich darauf. Das nutzen dann andere gnadenlos aus und tüfteln allgemein verblödende Formulierungen aus oder erstellen Statistiken. Ihr kennt alle die spaßige Definition von "relativ". Die hat nichts mit Albert Einstein zu tun. Google bietet hier an: Die Aussage mit relativ ist in bestimmten Grenzen, unter bestimmten Gesichtspunkten, von einem bestimmten Standpunkt aus zutreffend und daher in seiner Gültigkeit, in seinem Wert o. Ä. eingeschränkt. Kurz gesagt: Ein Haar in der Suppe ist relativ viel, ein Haar auf dem Kopf dagegen relativ wenig.
Auch die Prozent- oder Promilleangaben erhalten vor den absoluten Werten den Vorrang. Das klappt um so besser, je mehr man die Bezugsgrößen verschleiert oder veranachlässigt. Überall dort, wo abgestimmt wird, gelten für den Erfolg gewisse Mehrheiten. Die einfache Mehrheit ist auch einfach zu erklären. Hier sind z.B. 2 mehr als 1 oder 65 mehr als 64.
Wenn da nicht der kleine Haken in den Satzungen wäre, dass es neben Ja-Stimmen und Nein-Stimmen auch die Möglichkeit der Enthaltung gäbe. Es hat sich allgemein durchgesetzt, dass Enhaltungen stets als Ja-Stimmen oder Nicht-Nein-Stimmen, also als positive Entscheidungen gelten. So ist es denkbar, dass bei einer Vereinsversammlung von 1000 Mitlgliedern 3 für Kandidat A stimmen, 1 stimmt für Kandidat B und 996 Mitlgieder enthalten sich. Ergebnis: Kandidat A wird mit einer überwältigenden Dreiviertelmehrheit oder 75 % zum neuen Vorsitzenden gewählt. Das vermittelt den falschen Eindruck, dass A dreiviertel der Mitglieder hinter sich hätte, was natürlich nicht stimmt.
So ist es ja auch bei den Wahlen. Nichtwähler zählen als Enthaltungen. Wenn also eine Partei bei einer Wahlbeteiligung von 60 Prozent 40 Prozent der Stimmen erhält, so haben in Wahrheit nur 24 Prozent der Wahlberechtigten für diese Partei gestimmt. Wie hoch der Anteil der Bevölkerung, also einschließlich der Nicht-Wahlberechtigten, ist, ist damit noch lange nicht gesagt. Oft ist die Wahlberechtigung ja auch an bestimmte Voraussetzungen gebunden wie beispielsweise bei Betiriebsratswahlen. Da kann es auf den Status des Arbeitnehmers ankommen oder die Dauer der Zugehörigkeit zum Betrieb. In den öffentlichen Veranstaltungen nach den Wahlen ist natürlich niemand so töricht, diese Mathematik preiszugeben.
Es kommt immer darauf an, wie man seine Werte verkauft, was man hinzufügt und was man auslässt. Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Putin und Trump, diese zwei, machen ein Wettrennen über den Roten Platz in Moskau. Natürlich gewinnt der drahtige Wladimir Putin mit Weile, also einem riesigen Vorsprung. Trump hat schon allein wegen des cw-Wertes seiner Frisur keine Chance.
Die russische Nachrichtenagentur veröffentlicht: Bei einem Rennen über den Roten Platz zwischen Putin und Trump siegte unser Präsidenkt Wladimir Putin souverän. Die New York Times berichtet ebenfalls wahrheitsgemäß aber mit anderem Wortlaut: Bei einem Rennen über den Roten Platz in Moskau erreichte der amerikansiche Präsident Trump trotz eisiger Kälte und widrigen Windverhälnissen einen beachtlichen zweiten Platz. Wladimir Putin wurde mit großem Abstand Vorletzter. - Völlig richtig, wenn nur zwei laufen ist der Sieger tatsächlich Vorletzter und der Letzte eben Zweiter. Ja, so ist das mit Zahlen. Beide Aussagen sind richtig und doch sind sie in ihrer Wertung unterschiedlicher wie es kaum schlimmer geht.
Auf ein ähnliches Phänomen treffen wir in der Werbung. Da kostet ein Produkt bei der Firma A 120 Euro. Die Firma B nimmt 150 Euro für das gleiche Produkt. Wiederum stimmen beide Aussagen mathematisch: Bei B ist das Produkt 25 Prozent teuerer als bei A. Gleichzeitig können wir aber sagen, dass das Produkt bei A nur 20 Prozent billiger ist. Natürlich wird jeder hier den Vergleich wählen, der für ihn auf Anhieb besser erscheint.
Bei solchen Vergleichen haben sich im übrigen sprachliche Formulierungen eingebürgert, die mathematisch völliger Unsinn sind. Es sind Aussagen, die man in der einen Richtung durchaus noch gelten lassen kann. Umkehren kann man sie aber nun wirklich nicht. Wenn der Sieger A bei einem Geschicklichkeitswettbewerb 30 Kugeln in einen Korb geworfen hat, der Zweite B aber nur 10, dann kann man sagen, dass der Sieger dreimal so viele Kugeln eingekorbt hat wie B. Manche neigen jedoch bei der Umkehrung zu sagen, dass B dreimal weniger in den Korb geschafft hat. Das ist einfach Blödsinn! Genau dieser Blödsinn ist aber im Handel an der Tagesordnung. Da werden Preise angegeben und mit dem Anreiz auf einen Kauf der größeren Menge damit geworben, dass man dann 2 mal weniger zahlt. Vielleicht zweimal weniger als man Fußnägel hat, auf den Preis und die Menge in Relation stimmt es dann jedoch nicht.
Regelmäßig stellen drei Buchstaben, nämlich das Wörtchen "nur" das Gehirn ab. Bei 17 Stück zahlen sie 2,55 Euro, bei 25 Stück "nur" 3,99 Euro. Wenn dann die Ware noch in einem großen Stapel steht - dieser suggeriert ohnehin schon: Achtung! Sonderangebot! - ist der Betrug perfekt. Halt Betrug?! Ne, ist doch transparent. Was kann der Verkäufer dazu, wenn der Kunde nicht rechnen kann.
Der Zahlenbetrug zieht sich durch alle Schichten, alle Branchen und alle Berufe. Man will beispielsweise eine Gratifikation trotz scheinbar guter Geschäftslage nicht erhöhen. Im Frühjahr und im Sommer hat es eine Welle von Magen- und Darmstörungen gegeben, was den Toilettenpapierverbrauch in der Firma drastisch erhöht hat. Toilettenpapier wird unter allgemeine Verwaltungskosten verbucht. Die Gesamtsteigerung des verbrauchten Toilettenpapiers machte 38,453 % gegenüber dem Vorjahr in der Verwaltung aus. Der Boss nimmt sich die Speisenkarte seines Kegelrestaurants zur Hand stellt sich nach vorn, tut wichtig und liest anscheindend ab. Nachdem er mehrfach zwischen Hummersuppe und Jägerschnitzel hin- und hergeblättert hat, argumentiert er: "Liebe Mitarbeiter, leider können wir die Gratifikationen in diesem Jahr nicht erhöhen. Zwar haben wir, ihnen sei Dank, den Umsatz um 5 Prozent steigern können, dem standen aber leider auch teilweise Steigerungen im Bereich der Verwaltungskosten um mehr als 38,45 % (die krumme Zahl und 'mehr als' sind wichtig!) gegenüber. Wir sind dabei, hier kostensenkend aber sozialverträglich einzugreifen, damit wir im nächsten Jahr wieder über eine Anpassung verhandeln können." Ob der Chef nun waschbares Mehrwegpapier anschafft, wissen wir nicht, aber im nächsten Jahr findet er bestimmt auch wieder einen Posten, der herausgestellt werden kann. Zwar ist dieses Beispiel bewusst stark überspitzt, aber in Betrieben, in denen keine Publikationspflicht oder Offenbarungspflicht besteht, ist dieses Vorgehen Gang und Gäbe.
Geschäftszahlen werden auch gern in Tsd € angegeben, bei Vergleichen wird aber schnell auch mal zwischen Mio € und Tsd € hin- und hergesprungen. In Aktienbilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen ist das nicht erlaubt, in den Erläuterungen der Positionen schon. So wird man in den Erläuterungen bei kritischen Kleinpostionen niemals 0,113 Mio Euro finden. Hier wird man sich mit 113 Tsd€ begnügen. Ein paar tausend Euro suggerieren seit DB-Chef Breuer Peanuts, während Mio doch schon Aufmerksamkeit erregen.
Bis heute konnte man sich nicht dazu durchringen, die sogenannten Schwellenpreise zu glätten. Während man unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine sehr preisbewusste Bevölkerung hatte, scheint dieses Bewusstsein heute wie weggeblasen zu sein. Seit eh und je haben Tankstellen die "dritte Stelle" in der Preisangabe. Ich kenne in der Tat niemanden, der mir auf Anfrage nach dem Preis für Superbenzin zur Antwort gibt: Super kostet 1 Euro 48, wenn an der Tanke 1 Euro 47,9 ausgeschildert ist. Die Antwort ist dann kurz und bündig 1,47.
Beenden wir hier die Zahlenspielerei. Dieser Artikel soll ja auch nur eine kleine Anregung sein. Befasst euch doch mal wieder mit den Zahlen, die euch jeden Tag aufgetischt werden. Schaut hinter die Kulissen. Wenn die Straftaten bei Fälschungen von Geigenbogenbespannungen um 100 Prozent steigen, so ist das vielleicht eine einzige Straftat mehr im Jahr. Beim Ladendiesbstahl sind es schon Millionen Taten mehr. Also Augen auf beim Eierkauf! Euer Graf Raffelberg.